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AutorenbildHaiko

Spionage während der Vorbereitungen des Mauerbaus - DIE FREMDE SPIONIN


Inhalt: Ria ist zehn Jahre alt, als ihre Eltern von der Staatssicherheit abgeholt werden. Sie wird von ihrer kleinen Schwester getrennt und in einer Adoptivfamilie untergebracht. Seither führt Ria in Ostberlin ein scheinbar angepasstes Leben. Erst als der BND sie als Informantin rekrutiert, sieht sie ihre Chance gekommen. Mithilfe des westlichen Geheimdienstes will Ria sich an der DDR rächen und endlich ihre Schwester wiederfinden. Doch dann erfährt sie im Sommer 1961 von einem ungeheuerlichen Plan, der ihr Schicksal und die Zukunft beider deutscher Staaten für immer verändern könnte … Kritik:

Titus Müller wagt sich - nicht wirklich überraschend, aber das ist auch gut so, denn das kann er ausgezeichnet - erneut an einen historischen Hintergrund. Der Autor, der mit seinen Werken in die Lebenswelt zurückliegender Jahrhunderte und Jahrzehnte taucht, studierte Literatur, Mittelalterliche Geschichte, Publizistik und Kommunikationswissenschaften in Berlin. Wie passend, diese Kombination. Geboren 1977 in Leipzig ist er - sprechen wir es aus - ein Kind des Ostens, wenn man das heutzutage als Kind des Westens noch sagen darf. Und das ist nicht abwertend gemeint, sondern macht Einiges deutlich. Böse Zungen sprachen damals gerne von Ossis oder Wessis in jeweils abwertender Funktion. Für mich als waschechter Westberliner, der den Fall der Berliner Mauer als Kind miterlebte, eine ganz normale Feststellung, wenn man andere Kinder beim Fußballspielen oder auf dem Spielplatz traf. Wir waren Kinder, wir haben diese Zeit halt alternativ erlebt und waren weit weg von Todesstreifen und Selbstschussanlagen. Ein schöner Sonntag Nachmittag war für uns an der Berliner Mauer entlang eine Fahrradtour zu machen. Spannend war, um die letzten Aluminum-Münzen der Ostmark auszugeben, der Besuch im Fernsehturm. Bei einer Lesung sagt Titus Müller, dass ehemalige DDR-Bürger auf ihn zukommen und sagen, dass sie eine ganz andere DDR erlebt hätten, was über den Spruch „Es war nicht alles schlecht“ hinausgeht. Titus Müller akzeptiert diese Ansichten, die seiner Meinung nach völlig okay sind, denn jeder nimmt sein Umfeld unterschiedlich wahr. Aber um dieses Berlin mit vorhandener Mauer und Fernsehturm geht es nicht im neuesten Roman von Titus Müller DIE FREMDE SPIONIN, der Auftakt einer Trilogie ist. Es geht um den Bau der Berliner Mauer. Der Roman steigt richtig im Jahre 1961 ein. Die Grenzen in der Stadt zwischen West- und Ostberlin sind soweit offen, dass über 120.000 West-Berliner in Ost-Berlin und Umland und über 70.000 Ostberliner in den Westsektoren arbeiteten. Der Grenzübertritt der Arbeitskräfte war ganz normal, die Entlohnung im Osten jedoch eine ganz andere, natürlich waren dementsprechend auch die Verfügbarkeit von Waren und deren Kosten ungleich. Wir folgen der Hauptakteurin Ria, die uns in kleinen Rückblicken ihre Geschichte eröffnet. Eine, in der ihre Familie auseinandergerissen wurde, ihr Vater von der Staatssicherheit verschleppt und verhaftet wurde. In der sie von ihrer Schwester getrennt und in einer Adoptivfamilie untergebracht wurde. Innerlich aufgewühlt, mit Mordgedanken an die Täter, führt sie nach Außen hin ein eher angepasstes Leben, macht eine Ausbildung als Sekretärin und bekommt plötzlich eine Anstellung im Ministerium für Innerdeutschen Handel, Außenhandel und Materialversorgung. In einer solchen Position war sie selbstverständlich interessant für den BND, dem Nachrichtendienst der BRD, und bekommt die Möglichkeit für den Westen als Spionin zu arbeiten, wobei sie sich wiederum Unterstützung bei der Suche nach ihrer Schwester erhofft. In fesselnden Passagen lässt Titus Müller unsere Hauptakteurin mit Minikameras und toten Briefkästen spionieren, immer auf der Hut vor der Staatssicherheit entdeckt zu werden und in die Fänge des DDR-Regimes zu geraten. Sie macht anfänglich ihre Sache so gut, das man sie im Westen bremsen muss, damit sie nicht auffällt. Der Osten kommt ihr langsam auf die Schliche. An ihre Versen heftet sich der effektive Top-Agent Fjodor Sorokin als Gegenspieler. Ist die berufliche Situation mit dem BND als zweiten Arbeitgeber und der Staatssicherheit im Nacken nicht schon prekär genug, lässt Titus Müller seine Hauptfigur auch noch verlieben und stellt ihr einen Mann an ihre Seite, natürlich - wie kann es auch anders sein - jemand aus dem Westen. Durch geniale Perspektivwechsel lernt der Leser nicht nur Ria näher kennen, sondern auch die menschliche Seite von Fjodor Sorokin, der in einem Straflager geboren und von einem Aufseher aufgenommen und zur Härte erzogen und schließlich für die Akademie des KGB empfohlen wurde. Der, weil er so erfolgreich war, es sich erlauben durfte zu fragen, ob er heiraten dürfe. Eine menschliche und vor allem eine wahre Geschichte. Wahr sind auch viele Figuren in DIE FREMDE SPIONIN. Rias Abteilungsleiter im Ministerium ist Alexander Schalck. Aufgewachsen in Armut hat dieser Hunger nach Erfolg und verschaffte der DDR unter anderem Devisen durch Schmuggel. Durch die Augen von Erich Honecker, der als Sekretär für Sicherheitsfragen des ZK der SED maßgeblicher Organisator des Baus der Berliner Mauer war, erleben wir die Vorbereitungen zu der kompletten Abriegelung des Landes und vor allem die komplette Spaltung der Stadt Berlin. Auch Kennedy oder Ulbricht kommen vor, was die Geschichte noch authentischer werden lässt. Das Müller ausgerechnet eine Frau als Spionin wählte, ist ein kluger Schachzug und verhindert Vergleiche zu den gut bekannten Spionen aus Film und Fernsehen und man ist somit frei im Kopf für die Geschichte von Ria. Das undurchsichtige Katz-und-Maus-Spiel der verschiedenen Geheimdienste macht Spaß, halten den Spannungsbogen hoch, dass man einfach dran bleiben möchte. Die Erläuterungen über das Blitz-Foto-Kopierergerät „Tempocop“ zum Beispiel zeigen auch den Fortschritt der DDR. Besonderes Augenmerk legt Müller gerne auf die Konfrontation zweier Menschen und deren Dialoge. Besonders in Verhören kann er hier seine Figuren gegeneinander regelrecht duellieren lassen wie zwei Cowboys im Wilden Westen. Man erfährt Dinge über Verhörmethoden und das Lesen der Gestik des Gegenübers. Man lernt nicht nur Neues aus der alten Geschichte, sondern etwas für den eigenen Alltag. Das macht die Sache dann komplett rund. Fazit: Titus Müller schafft es immer wieder Geschichte zum Leben zu erwecken. Durch die gut ausgearbeiteten Figuren mit all ihren menschlichen Zügen ist man drin im Geschehen und erlebt die Ereignisse wahrhaftig mit. Die Vergangenheit wird in inhaltlich perfekt recherchierten Geschichten plötzlich wieder präsent. Eine Begabung. Titus Müller bereitet mit seinen Büchern einem nicht nur viel Spaß Zuhause, er ist darüber hinaus auch persönlich auf Lesungen sehr herzlich. Ich bin auf Teil 2 und 3 seiner Trilogie gespannt, die die Guillaume-Affäre, den Widerstand in der DDR gegen die Wahlfälschung und natürlich den Fall der Berliner Mauer beinhalten sollen. Empfehlenswert zu erwähnen ist auch Müllers Buch DIE GOLDENEN JAHRE DES FRANZ TAUSEND. Ein Sittenbild der Weimarer Republik im Übergang zum Nationalsozialismus. Bitte lesen Sie auch dieses Buch.


Bild: © Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

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